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Reutlinger Generalanzeiger:
Pfullingen/Eningen/Lichtenstein / 28.01.2020

Filmpremiere - Raimund Vollmer zeigt im Unterhausener Gemeindehaus seinen Film zum Kriegsende in der Region

»Um uns brannte die ganze Straße«

VON NORBERT LEISTER


LICHTENSTEIN. Reutlingen brennt. Schreckliche Bilder tauchten am Sonntag auf der Leinwand auf. Die Achalmstadt lag nach den Bombenangriffen wenige Wochen vor Kriegsende im Jahr 1945 in Schutt und Asche. Gezeigt wurden Fotos einer zerstörten Stadt - so wie man sie heute aus Syrien kennt. Reutlingen zählte damals 36 000 Einwohner, berichtet der freie Journalist Raimund Vollmer in seinem Film »Zeitzeugen - 1945«. Aber für gerade mal 4 000 Reutlinger gab es damals Luftschutzkeller. »Ich musste am 22. Februar 1945 als fünfjähriges Kind aus der Badewanne raus, wir liefen in die Emil-Adolff-Straße zu einem Bunker, um uns herum brannte die ganze Straße«, erinnert sich Knut Hochleitner als einer der Reutlinger Zeitzeugen.

Am vergangenen Sonntagnachmittag platzte der Saal im evangelischen Gemeindehaus in Unterhausen quasi aus allen Nähten. Der Andrang zu dem Film war so groß, dass einige Interessierte wieder heimgeschickt werden mussten. »Aber es wird einen zweiten Termin geben«, versprach Gert Lindemann vom Geschichts- und Heimatverein Lichtenstein. Zusammen mit der evangelischen Gesamtkirchengemeinde Unterhausen-Honau hatte der Verein zu der Filmschau geladen, damit über die Erinnerungen von Zeitzeugen »verhindert wird, dass sich solch schreckliche Ereignisse wiederholen«, betonte Lindemann. Er hob »die große Leistung von Raimund Vollmer« hervor, der nicht nur die Interviews mit den Zeitzeugen geführt, sondern auch den Film erstellt hat. »An diesem Abend >gute Unterhaltung< zu sagen, wäre wohl fehl am Platz«, so Lindemann.

»Es hieß damals, wir sollten nichts Rotes anziehen«

Manche der Menschen sagen in dem Film, dass sie damals Angst gehabt hatten während der Bombenangriffe. Hoch emotional und erschütternd waren die Beschreibungen eines Reutlingers: Er habe gesehen, wie nach dem Bombenangriff in der Nähe vom Bahnhof ein Bunker getroffen wurde. Als kurz darauf, so die Schilderungen, brennende Häuser gelöscht wurden, war das Löschwasser blutrot und das Löschrohr musste immer wieder gereinigt werden - weil Leichenteile es verstopften.

Doch es gab auch andere Darstellungen: Angst? Nein, Angst habe sie damals in Berlin nicht gehabt bei den ständigen Bombenangriffen, erzählt Emilie Rohe, die damals 24 Jahre alt war. Sie stammt aus Lichtenstein, hatte aber für drei Jahre den Krieg in der Hauptstadt erlebt. »Ich war immer Optimist«, sagt Rohe in dem Film. Am Sonntag war sie genauso unter den Besuchern wie Hochleitner. Andere wieder berichten, wie gespenstisch es in den Luftschutzbunkern zuging, bei flackerndem Kerzenlicht und den wackelnden Häuserwänden, wenn wieder irgendwo in der Nähe eine Bombe einschlug.

»Angst hatte ich, als Honau bombardiert wurde«, berichten andere Zeitzeugen. »Die Schule wurde leider nicht getroffen«, sagt ein Mann, der damals Kind war. Angst gab es aber auch außerhalb von Schutzbunkern und Kellern, wenn die Tiefflieger einmal mehr kamen. »Es hieß damals, wir sollen nichts Rotes anziehen«, erinnert sich eine Frau aus Eningen. Rot werde von den Fliegern besonders gut gesehen. »Ich hatte sehr lange Alpträume, in denen ich ständig auf der Flucht war, immer am Wegrennen.« Wieder andere berichten, dass die Zugstrecke im Echaztal immer wieder Ziel von Bombardierungen war.

Und als der Krieg in der Reutlinger Region schließlich vorbei war? Der 20. April 1945 »war ein wunderschöner Frühlingstag, die Panzer kamen näher, wir waren alle unten im Keller«, erzählt eine Frau aus Betzingen. Und die Franzosen? »Die hatten Durst, wir haben ihnen was zu trinken gegeben, sonst ist nichts passiert.«

»Es kam für uns Mädchen und Frauen die Zeit der Angst«

Dennoch: Die Angst war groß, was die Besatzer nun mit den Menschen, vor allem mit den Frauen und Mädchen tun würden. Besonders große Furcht hatten die damals jungen Frauen vor den Marokkanern und Algeriern. »Als in Engstingen ein Marokkaner hinter mir stand - nein, nein, der hatte kein Messer in der Hand - aber ich bin erschrocken«, so eine Zeitzeugin. Die meisten Deutschen hatten bis dahin noch nie einen farbigen Menschen gesehen. In der Zeit kurz nach dem Krieg war es mit der Angst aber noch nicht vorbei - auch wenn keine Bomben mehr fielen. Ein damals 15-Jähriger erinnert sich: »Ein Franzose hat zu uns gesagt: >Ihr seid Werwölfe, wir erschießen euch.< Sie haben es dann doch nicht getan.« Eine Frau berichtet von Vergewaltigungen, eine Pfullingerin sagt: »Es kam für uns Mädchen und Frauen die Zeit der Angst.« Von Diebstählen der Besatzer berichten mehrere im Film. »Sie haben auch Sachen mitgenommen, aber es gab ja nichts Wertvolles«, sagt eine Zeitzeugin.

Noch viel größere Probleme waren nach den Aussagen der damals jungen Menschen die fehlenden Lebensmittel. »Wir hatten einen Riesenhunger damals«, hieß es. Von Pfullingen bis nach Pfronstetten seien einige damals gelaufen, um von den Landwirten etwas zu Essen zu bekommen. »Nichts haben wir gekriegt«, erinnert sich eine Frau.

Und schließlich kam natürlich das Thema der »Heimkehrer« zur Sprache. Männer berichten, dass sie aus der russischen Gefangenschaft sieben Jahre unterwegs waren. »Da kam so ein Landstreicher«, sagt eine Frau. Furchtbar habe der ausgesehen, »das war unser Vater«. Und ein Zeitzeuge sagt: »In der Gefangenschaft bei den Russen haben sie jeden Tag ein bis zwei Tote rausgetragen.« Ein Wunder, dass er selbst überlebte.

»Eigentlich wollte ich nur über die Nachkriegszeit berichten, doch die Zeitzeugen berichteten so viel über den Krieg und das Kriegsende, dass die Idee zu diesem Film sich erst nach und nach entwickelte«, erklärte Filmemacher Raimund Vollmer. (GEA)

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